Liegt der Grund etwa darin, dass wir von Jahr zu Jahr kränker werden? Pillen begleiten unseren Alltag inzwischen als treue Begleiter. Die Pharmakologisierung der Gesellschaft fängt schon in den ersten Lebensmonaten an und endet oft im hohen Alter mit einem ganzen Multimedikations-Cocktail. Die Konditionierung verfängt schon sehr früh: Warum beim Baby umständliche Wadenwickel machen, wenn ein Fieberzäpfchen doch so schnell eingeschoben ist? Unser Verhältnis zum Kranksein hat sich immer mehr verändert. Heute holt man seine Medikamente ab, schluckt sie und wartet, bis sie wirken. Mehr ist von einem selbst nicht zu tun.
Natürlich dürfen wir dankbar sein für viele lebensrettende und starke Symptome lindernde Arzneien. Niemand will sie missen, keiner wird sie verdammen. Aber es scheint, als ob in der Medizin der Sinn für das richtige (gesunde) Maß verloren gegangen ist. Dabei gibt es genügend Gründe, den Arzneimittelverbrauch zu reduzieren. Denn wie wir eine schnelle und starke Verminderung der CO2-Freisetzung benötigen, brauchen wir rasch eine deutliche Verringerung des „Arzneimittelausstoßes“. Nicht nur Treibhausgase sind ein ökologisches Problem, auch Arzneimittelrückstände häufen sich in der Umwelt immer stärker an, in Gewässern, im Trinkwasser, in Böden. https://www.test-wasser.de/medikamente-im-trinkwasser
Mit bisher noch gar nicht genau zu bestimmenden Folgen für unsere Gesundheit, vor allem jener kommender Generationen. Es muss ein Konzept her, wie die potenziell gesundheitsgefährdenden Rückstände deutlich reduziert werden können. Hier stellt sich dann die Frage: Welche Rolle können dabei alternativ- und komplementärmedizinische Heilverfahren spielen?
Scheinbar trauen immer weniger Menschen wissenschaftlichen Fakten. Das bringt die Vertreter des Wissenschaftsjournalismus auf die Palme. Vielleicht spüren die Leute aber instinktiv, dass man die Welt nicht einfach in Fakten und alternative Fakten einteilen kann, in vermeintlich richtig und vermeintlich falsch. Vielleicht haben die Leute ja einen instinktiven Hang zum perspektivischen Denken, ober auch zur Ambiguität (Mehrdeutigkeit). Um es klar zu sagen: Es geht hier nicht darum, ob die Erde eine Scheibe ist oder nicht, vielmehr um Themen, die so komplexe Systeme betreffen wie die des Lebens. Wobei wir bei der Medizin wären. Zugegeben nicht das Fachgebiet der hier abgebildeten studierten Köpfe. Mai Thi Nguyen-Kim und Dirk Steffens kann man das ja noch nachsehen, aber Harald Lesch als Experten für Naturphilosophie und bekennenden Fan von Alfred North Whitehead nicht, der ja eine ganz andere Weltsicht (auch des Organischen) konzipierte, als jene, vor deren Karren sich Lesch nun spannen lässt. (1)
„Fakten sind kastrierte Wahrheiten“ sagt der Dichter und Philosoph Khalil Gibran (2). „Fakten sind die richtigen Wahrheiten“ sagen die Vertreter des Wissenschaftsjournalismus (3). Fakten sind Tatsachen und keine Meinungen, das ist unbestritten, nur haben Fakten nicht zwangsläufig etwas mit Wahrheit zu tun. Das hat z.B. Harald Lesch bisher immer wieder betont (4), behauptet nun aber das Gegenteil, wenn es um das Thema Homöopathie geht. Diese baue für ihn (und er vergleicht sie dabei in einem Atemzug mit dem Nationalsozialismus) auf Scheinwelten auf und nicht auf objektiven Wahrheiten. (5) …
Lesen Sie dazu das Kapitel „Fakten, Fakes und Fast-Food-Denken“ aus meinem Buch „Alternativloses Heilen“ (6). Wenn dort von „Skeptikern“ die Rede ist, muss man von nun an auch Wissenschaftsjournalisten sagen.
Fakten, Fakes und Fast-Food-Denken
Den Wahrheitsanspruch der Naturwissenschaften begründen die Skeptiker mit der nachweisbaren Gültigkeit von Fakten, die die wissenschaftliche Erkenntnis erbracht hat. Fakten und Wahrheit stehen für sie auf einer Stufe. Und da wissenschaftliche Fakten nachweisbar, überprüfbar und nicht widerlegbar sind, dürfe man ihnen auch Wahrheitscharakter beimessen. Alles andere hieße, sie der beliebigen Interpretation preiszugeben – mit verheerenden Folgen für die Wissenschaft, aber auch für die aufgeklärte Gesellschaft. So verkehrt ist diese Auffassung ganz gewiss nicht. Sie bringt nur die Gefahr mit sich, etwas zu zweifelsfreien Fakten zu erklären (und mit dem Wahrheitsmerkmal zu adeln), was diesen Anspruch gar nicht erfüllt. Entsprechende Tendenzen kann man in der Argumentation der Skeptiker gegen die Alternativmedizin deutlich erkennen.
Fakten können als eine Art Totschlagargument dienen. Mit ihnen kann man jede Diskussion kurz machen und feststellen: So ist es, Punkt! Fakten sind schließlich Tatsachen, die objektiv zutreffen und richtig sind. Wer solche anzweifelt oder leugnet, stellt sich damit oft selbst ins Abseits und muss sich nachsagen lassen, „alternative Fakten“ zusammenzubasteln und sie als Fake News unter die Leute zu bringen. Er oder sie gelten dann schnell als Verschwörungstheoretiker, die entweder ein Problem mit ihrem Intellekt haben oder böse Absichten im Schilde führen. Das kann dann so weit gehen, dass Homöopathen schon mal als „Reichsbürger in Birkenstock“ oder „Globulidioten“ denunziert werden. Kurz: Wer sich auf Fakten berufen kann, braucht keine Angst mehr vor Zweifeln zu haben und kann sich beruhigt auf der Seite der „Guten“ beziehungsweise „Richtigen“ wähnen und sich über all die „anderen“ ärgern und/oder lustig machen. Doch was sind eigentlich Fakten?
In der objektiven Welt der Naturwissenschaften hat man es mit der Faktenlage vergleichsweise leicht. Das Normalhöhennull der Zugspitze liegt bei 2962,06 Metern, die maximale Tiefe des Bodensees liegt bei 251 Metern und unser Sonnensystem besitzt acht Planeten. Das sind alles überprüfbare und absolut richtige Tatsachen – bis auf das letzte Beispiel. Bis 2006 hatte unser Sonnensystem neun Planeten. Der äußerste, Pluto, wurde gestrichen. Also war die Faktenlage diesbezüglich bis 2006 eine andere als heute. Wahrscheinlich ist der Fakt, das Sonnensystem habe acht Planeten aber auch falsch, denn es wird allgemein angenommen, dass es möglicherweise doch einen neunten Planeten weit hinter Pluto gibt. Im Gegensatz zu den physikalischen Messwerten gehört die Anzahl der Planeten also zu einer ganz anderen Kategorie von Fakten. Man könnte sie variable „Definitionsfakten“ nennen im Gegensatz zu den harten „Messungsfakten“.
Bei der ersten Kategorie definiert der Mensch den Rahmen, in welchem etwas bestimmt werden soll, in der zweiten misst er etwas von der Natur Vorgegebenes, was sich durch Überprüfung sicher bestätigen lässt. In der ersten Kategorie können sich die Verhältnisse und die daraus hergeleiteten Fakten ändern, in der zweiten nicht (es sei denn, man findet zum Beispiel im Bodensee irgendwann eine noch tiefere Stelle). Man könnte noch eine dritte Kategorie aufmachen und diese vielleicht „Beobachtungsfakten“ nennen. Sie ähneln den „Messungsfakten“, beziehen sich aber nicht auf einzelne physikalische oder chemische Gegebenheiten, sondern sie haben komplexere Dinge zur Grundlage. Ein aktuelles Beispiel hierfür wäre die Situation des Klimawandels. Da werden Daten gesammelt, Studien gemacht und Modelle erstellt – alles auf neuestem wissenschaftlichem Stand. Es wird also exakt und genau beobachtet, um daraus verlässliche Aussagen zu machen. So entstehen die „Fakten zum Klimawandel“. Da sie wissenschaftlich korrekt erstellt wurden, gelten sie als richtig. Doch auch sie sind nicht unumstößlich. Aktuellere Daten können andere Aussagen nach sich ziehen. Folglich sind Fakten, die auf Basis wissenschaftlicher Forschung gewonnen wurden, objektiv richtig, müssen jedoch immer entsprechend interpretiert werden. Eigentlich sind Fakten, die keine rein physikalische oder chemische Basis haben, immer Interpretationen von Daten, die wiederum selbst hinterfragt werden können. So weit, so gut. Was aber hat das mit der Diskussion um die Alternativmedizin zu tun?
Die Argumentation der Skeptiker geht dahin, dass die Fakten eindeutig gegen die Wirksamkeit der allermeisten alternativmedizinischen Heilverfahren sprächen. Diese Aussage ist die Basis, auf die sich ihre Forderung stützt, Alternatives konsequent aus der Medizin auszusortieren und nur noch nachweislich Wirksames zu akzeptieren. Wenn man nun weiß, dass Fakten nicht gleich Fakten sind, dann stellt sich natürlich die Frage, wie die Fakten einzuordnen sind, die laut Skeptikerbewegung zweifelsfrei gegen die Alternativmedizin sprechen sollen. Da man sich im Bereich der Medizin befindet, gilt die therapeutische Wirksamkeit als Maßstab. Bestätigen wissenschaftliche Untersuchungen eine Wirksamkeit, dann gilt eine solche als „wissenschaftlich bestätigt“. Hierzu werden klinische Studien gemacht, die die Frage nach der Wirksamkeit beantworten sollen. Davon gibt es verschiedene Arten. Die höchste Aussagekraft wird den randomisierten Doppelblindstudien zugeschrieben, doch werden auch andere Studientypen zur Beurteilung herangezogen. Auch zu den verschiedenen alternativmedizinischen Heilverfahren gibt es wissenschaftliche Studien unterschiedlichster Art. Nach Auffassung der Skeptiker konnten diese keine spezifische Wirksamkeit nachweisen. Für sie ist dies ein zweifelsfreies Faktum auf wissenschaftlicher Grundlage. Somit sei eine Eliminierung dieser Verfahren aus der offiziellen Medizin geboten und legitim. Wie eindeutig aber ist die Aussagekraft solcher Studien wirklich?
Hier muss man sehen, in welche Kategorie von Fakten die Studiendaten einzuordnen sind. Harte „Messungsfakten“ sind sie sicherlich nicht, schon eher handelt es sich um „Beobachtungsfakten“, also solche, die komplexe Systeme empirisch untersuchen und Daten erheben, die gedeutet werden müssen. Da einzelne Studien für sich genommen noch keine klare Aussage erbringen können, fasst man die Studienlage zusammen und erstellt sogenannte Reviews und Metaanalysen. Hierzu aber müssen Vorgaben und Kriterien erstellt werden, die genau zu definieren sind. Die Ergebnisse solcher Studienanalysen werden durch den Filter dieser Rahmenbedingungen bedingt. Werden sie verändert, verändert sich meist auch das Ergebnis. Das Analysieren und Auswerten von Studiendaten ist eine heikle Angelegenheit. Man kann noch so bemüht sein, die Fehlerwahrscheinlichkeit so gering wie möglich zu halten, es wird nie ganz gelingen. Von harten Fakten sind solche Studiendaten also weit entfernt. Auch wenn wissenschaftliche Studien die Grundlage für die Beurteilung medizinischer Verfahren sind, ist ihre Aussagekraft – gleich in welche Richtung – eher als ein (wenn auch gut begründetes) Indiz zu werten, kaum aber als zweifelsfreier Beweis mit Wahrheitsanspruch.
Wenn das in der Wissenschaft allgemein bekannt ist, müsste man eigentlich alle Studien vorsichtiger interpretieren, als es heute geschieht. Jedenfalls ist es wissenschaftlich kaum nachvollziehbar, wenn man die Studienlage als objektiven, letztgültigen Beweis für eine Aussage heranzieht. Auch kann man auf deren Grundlage keine Schlussfolgerungen ziehen, die eine Art „Wahrheitscharakter“ aufweisen sollen. In der Diskussion um die Alternativmedizin wird das jedoch häufig gemacht. Skeptiker legen die Studienlage oft so aus, als sei sie der „wissenschaftliche Beweis“, dass diese Methoden unwirksam seien. Oder sie formulieren diese Aussage zumindest so, dass man sie entsprechend interpretieren kann. Damit machen sie aus vorhandenen Fakten aber Fakes, denn solche Schlussfolgerungen sind wissenschaftlich unzulässig.
Beispiele, wie die Faktenlage zu Globuli & Co. manipuliert werden kann, gibt es viele. So verbreiteten homöopathiekritische Skeptiker vor einiger Zeit in den sozialen Medien die Aussage, die Fakten zur Homöopathie seien so unbestreitbar wie die Existenz der Mondphasen. Diese Behauptung ist schon deshalb Unsinn, weil sie verschiedene Faktenebenen miteinander verknüpft. Die Mondphasen lassen sich mittels Berechnungen aus Mathematik und Physik bestimmen. Für die Beurteilung eines medizinischen Heilverfahrens ist eine solche Herangehensweise nicht möglich. Durch die Verknüpfung der Ebenen wird aber suggeriert, die Behauptung, Homöopathie sei nicht wirksam, entspräche einer wissenschaftlichen Tatsache, die absolut unbestreitbar ist. Damit bekommt diese Aussage einen „Fake-Charakter“. Wer sich in der Materie nicht auskennt, wird das nicht bemerken und die Behauptung als gegeben und nicht anzuzweifeln einstufen.
Das Reduzieren auf simple Aussagen in der Debatte um die Alternativmedizin trägt mit zur Fake-Bildung bei. Bei der Homöopathie genügt ein einfaches „Nix drin, nix dran“, bei der Akupunktur ein „das Chi gibt es nicht“ und bei der Cranio-Sacral-Therapie „pulsierende Liquorwellen sind reine Fantasie“. Wenn solche Behauptungen von wissenschaftlicher Seite gemacht werden, nimmt man sie für gewöhnlich als „wahr“ an und ordnet sie als „nachweislich richtig“ in sein Denksystem ein. Selbst wenn diese Aussagen zweifelsfrei richtig sein sollten, heißt das nur, dass das spekulative Wirkmodell solcher Methoden nicht den Tatsachen entspricht. Damit aber eine nachgewiesene Unwirksamkeit zu verknüpfen, ist nach wissenschaftlichem Verständnis nicht möglich. Sicher wissen das die Gegner der „sanften Medizin“, weite Teile der Bevölkerung vermutlich aber nicht. Deshalb lässt sich mit solchen Vereinfachungen über ein „schnelles Denken“ bewusst spielen und die Meinungsbildung beeinflussen.
Die Einteilung in „schnelles Denken“ und „langsames Denken“ stammt von dem Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman. Danach bedienen wir Menschen uns im Alltag häufig einer schnellen Art des Denkens, weil Denken an sich anstrengend ist. Mitunter führt das Nachdenken über eine Sache auch nicht zu eindeutigen Antworten, sodass Zweifel bleiben. Da Zweifel aber häufig Hemmschuhe für ein aktives und zielgerichtetes Agieren sind, wollen wir sie vermeiden. Da hilft das „schnelle Denken“. Es arbeitet oft mit vom Intellekt leicht zu verwertenden Aussagen, die klar, eindeutig und einleuchtend sind. Oft läuft diese Art des Denkens automatisch und unbewusst ab, ist emotional eingefärbt und neigt zum Stereotypisieren. Ein solches Denken führt jedoch schnell zu Fehlschlüssen. „Langsames Denken“ hingegen ist analytisch, logisch, bewusst und hinterfragend. Es sei ein wirksamer Schutz vor kognitiven Verzerrungen und daraus resultierenden Irrtümern, so Kahneman. So betrachtet ist „schnelles Denken“ intellektuelles Fast-Food, das bequem ist, schnell sättigt, aber auf Dauer Probleme bereitet.
Die Kritiker der Alternativmedizin werfen dieser einen übersteigerten Hang zum „schnellen Denken“ vor. Wer an die Wirkung von Globuli, Bioresonanz oder Kräutermixturen glaube, der blende die Realität aus, die eindeutig besage, dass eine solche Wirksamkeit gar nicht existiere. Er akzeptiere nur, was er glauben wolle und was mit seiner Weltsicht im Einklang stehe – also keine Zweifel erzeuge. Es braucht nun wenig analytischen Scharfsinn, um festzustellen, dass die Argumentationsweise der Skeptiker nicht weniger Elemente eines „schnellen Denkens“ enthalten, als die von eingefleischten „Naturheilern“. Während letztere ihr „Fast-Food-Denken“ wohl mehr unbewusst und instinktiv einsetzen (da sie um den Unterschied der Denkweisen vielleicht gar nicht Bescheid wissen), kann man davon ausgehen, dass die wissenschaftlich meist bestens geschulten Skeptiker das schnelle Vereinfachen als Strategie bewusst einsetzen. Wer weiß, wie die Masse tickt, hat es leicht, sie in seinem Sinne zu führen. Das ist das Wesen jeder Propaganda.
Vor allem in der mitunter emotional sehr heiß geführten Diskussion um die Homöopathie werden seitens mancher Globuli-Gegner häufig denunzierende Behauptungen aufgestellt, die auf das „schnelle Denken“ der Menschen abzielen: „Homöopathie ist gefährlicher Voodoo-Zauber“, „Homöopathie ist Verschwörungstheorie“, „Homöopathen sind Betrüger und ziehen unschuldigen Patienten ihr Geld aus der Tasche“. Solche Aussagen werden häufig nicht hinterfragt, wenn sie aus scheinbar seriösen, wissenschaftlichen Kreisen kommen. Vor allem werden sie aus dem Grund als „bare Münze“ genommen, weil sie auf dem zentralen Argument der Homöopathiegegner aufbauen, das man in etwa so zusammenfassen kann: „In Globuli ist nichts drin, deshalb können sie auch nicht wirken. Das kann gefährlich werden. Lasst also die Finger davon und nehmt nur, was wirklich wirkt!“ Eine Aussage, der man kaum widersprechen kann, da sie scheinbar wissenschaftlich belegt ist, und zudem dem gesunden Menschenverstand entspricht. Leider hält sie aber einer Analyse durch ein „langsames Denken“ nicht stand.
Es ist nicht leicht, die unkonventionellen Heilverfahren in der Medizin mit einem einheitlichen und gleichzeitig passenden Begriff zu versehen. Bei genauer Betrachtung erscheinen alle üblichen Begriffe für einen Oberbegriff, der allgemein akzeptiert werden kann, als mehr oder weniger ungeeignet. Grund ist, dass sie jeweils nur einen Teilaspekt abdecken. Dabei beschreiben sie die Verfahren meist nur in einem besonderen Bezug zur wissenschaftlich anerkannten Schulmedizin. Gängig sind drei Begriffe: Alternativmedizin, Komplementärmedizin und integrative Medizin. Alle drei meinen nicht dasselbe. Alternativmedizinisch werden unkonventionelle Therapien bezeichnet, wenn man sie als Ersatz für schulmedizinische anwendet. Bei der Komplementärmedizin gelangen sie als Ergänzung oder Erweiterung allgemein anerkannter Methoden zum Einsatz. Als integrativ bezeichnet man das Bestreben, die unkonventionellen Methoden in die Schulmedizin zu integrieren.
Heute ist man allgemein bestrebt, von integrativer Medizin zu sprechen, wenn z.B. Naturheilverfahren, Homöopathie oder chinesische Medizin zusammen mit schulmedizinischen Therapien angewendet werden. Integrativ hört sich ja gut an, ist es das aber auch? Zweifel sind angebracht. Bei einer Integration geht es ja um eine Eingliederung. Etwas von außen soll sich in ein bestehendes System einordnen und somit Teil von ihm werden. Das wird aber nur dann erfolgreich sein können, wenn das zu Integrierende sich zentralen Grundelementen des Systems anpasst, in das es aufgenommen werden soll. Genau hier liegt bei der integrativen Medizin ein großes Problem.
Manche Verfechter dieses Modells geben sich offen und sagen, alles aus dem Bereich unkonventioneller Heilmethoden könne in die Medizin aufgenommen werden, solange es naturwissenschaftlichen Standards entspräche. Das heißt aber auch: Alle anderen Verfahren haben keinen Platz in einer solchen Medizin. Professor Harald Walach spricht in diesem Zusammenhang von einem „Kolonialisierungsversuch“, der alles ausgrenzt, was nicht dem Diktat der Naturwissenschaft folgt. Somit zeigt sich, dass der Begriff „integrative Medizin“ trügerisch ist und letztlich jenen in die Hände spielt, die die unkonventionellen Heilverfahren aus der Medizin eliminieren wollen.
Wenn sich nun die Begriffe alternativ, komplementär und integrativ allesamt nicht dazu eignen, das weite Feld der „außerschulischen Methoden“ treffend zu beschreiben, muss man sich dann nicht auf die Suche nach einem anderen machen? Da bietet sich ein Wort aus dem Griechischen an, das das Verhältnis der beiden Medizinrichtungen neu beleuchtet. Es ist der Begriff „dyadisch“. Dyas heißt Zweiheit. Heute wird dyadisch meist in der Soziologie und Psychologie verwendet. Dort bezeichnet es eine intensive Zweierbeziehung. Kennzeichnend für eine solche Dyade ist, dass zwei Personen wechselseitig aufeinander bezogen sind, ihre Aktionen und Reaktionen sind aufeinander abgestimmt. In diesem Sinne bilden beide Partner eine Einheit, in der nicht jeder „sein Ding macht“, sondern beide ein gemeinsames Ziel oder eine gemeinsame Aufgabe haben. Dabei stimmen sie ihre Aktivitäten miteinander ab. Sie sind grundlegend eigenständige Menschen, mit eigenem Denken, Fühlen und Handeln, bringen diese Eigenschaften aber in das Gemeinsame ein. Eine gesunde dyadische Beziehung ist grundsätzlich offen für das Gegenüber und ist auch bereit, sich durch eine gegenseitige Wechselwirkung im eigenen Denken, Fühlen und Handeln verändern zu lassen. Wie man dieses Modell auf die Medizin übertragen kann, habe ich im Buch „Alternativloses Heilen“ im Kapitel „Der Gegenentwurf: Eine dyadische Medizin“ beschrieben (ab S. 123): https://zuklampen.de/component/bcpublisher/bk/948-alternativloses-heilen.html?Itemid=
Wenn man etwas nicht weiß, versucht man sich die Informationen woanders zu holen. Das gehört zum inoffiziellen Lernstoff jeder Schule, d.h. Schülerinnen und Schüler lernen das als eine der grundlegenden Reaktionsmuster in ihren Lehranstalten schon sehr früh. Autodidaktisch, deshalb inoffiziell. Bei Klassenarbeiten und Prüfungen nennt man das spicken. Das Muster wird verinnerlicht und auch in späteren Lehr- und Ausbildungszeiten gerne angewendet. Selbst an Universitäten von Studierenden. Auch solchen, die Medizin studieren.
Diese haben 2004 einen Verein gegründet: die „Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e.V.“ Sie vertritt nach eigenen Angaben über 90 000 angehende Ärztinnen und Ärzte. Als Interessenvertretung dient der Verein der Meinungsbildung der Medizinstudierendenschaft und verschafft dieser eine Stimme auf Bundesebene. Damit sich die Medizinstudierenden in Deutschland zu einem Sachverhalt eine Meinung bilden können, verfasst die Bundesvertretung Positionspapiere. Mitte Mai 2020 veröffentlichte sie ein solches zur Homöopathie. Dieses beginnt mit dem Satz: „Die Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e.V. (bvmd) stellt die fehlende Evidenz für die Wirksamkeit homöopathischer Behandlungen und Arzneimittel fest“. Somit sollen alle angehende Ärztinnen und Ärzte eine klare Position zur Homöopathie einnehmen: Sie ist unwirksam und damit abzulehnen – mit den daraus folgenden politischen Forderungen: Raus aus Apothekenpflicht und Krankenversicherung, keine Aus- und Weiterbildung in Homöopathie mehr, Verpflichtung, bei Werbung auf die angeblich fehlende Wirksamkeit aufmerksam zu machen etc. Wie sind die Jungakademiker auf diese eindeutige Einschätzung gekommen? Wie man es halt auch an Unis immer wieder macht: durch Spicken und Abschreiben.
Natürlich haben Medizinstudierende für gewöhnlich null Ahnung von Homöopathie. Das ist kein Vorwurf. Schließlich ist man/frau ja an der Uni, um Wissenslücken zu schließen. Ihr Wissen über Globuli haben sie aber nicht an der Hochschule erhalten sondern durch das Studium der Veröffentlichungen von Meinungsbildner zum Thema. Und da gibt es für sie scheinbar nur einen wirklich seriösen: Das „Informationsnetzwerk Homöopathie“ (INH). Dessen Kernanliegen ist es, „dass der Homöopathie keine öffentliche Glaubwürdigkeit und auch kein Platz im öffentlichen Gesundheitswesen mehr eingeräumt wird.“ (Offener Brief an Ministerpräsidentin Manuela Schwesig von 2019). Das Positionspapier zur Homöopathie liest sich wie eins zu eins vom INH übernommen. Es läuft also so: Organisierte Homöopathie-Gegner haben das erklärte Ziel, die öffentliche Reputation der Homöopathie zu zerschlagen. Sie präsentieren ihre Einschätzung als zweifelsfreie Fakten. In der Sache unkundige Vertreter der Medizinstudierenden übernehmen diese Einschätzung und präsentieren sie als offizielle Feststellung ihren Mitgliedern. Folge: Über 90 000 angehende Medizinerinnen und Mediziner übernehmen die Meinung „Globuli sind Humbug“, weil ihre Interessenvertreter diese als Positionspapier so veröffentlicht, und diese wiederum beim INH abgeschrieben haben.
Studien, Reviews und Metaanalysen sind Interpretationen von nackten Zahlen. Man kann diese als Fakten bezeichnen, aber gewiss nicht als „zweifelsfrei“ oder „eindeutig“.
Die Studierendenvertreter argumentieren, es sei zweifelsfreier Fakt, dass Globuli keine Wirksamkeit hätten. Nein, das ist kein Fakt (zumindest kein zweifelsfreier), das ist die Einschätzung der gegenwärtigen Datenlage durch eine Mehrheit der Wissenschaftler. Diese Daten stammen aus Studien, Reviews und Metaanalysen. Die Zahlen und Statistiken aber sind nicht einheitlich. Man muss die überwiegende Mehrzahl der Daten ausklammern, um zum Schluss zu kommen, Homöopathie habe keine Evidenz. Studien, Reviews und Metaanalysen sind Interpretationen von nackten Zahlen. Man kann diese als Fakten bezeichnen, aber gewiss nicht als „zweifelsfrei“ oder „eindeutig“. Die gegenwärtige Studienlage als Grundlage herzunehmen, über die Homöopathie ein definitives und endgültiges Urteil zu sprechen ist unwissenschaftlich.
„Aber es ist doch allgemeiner wissenschaftlicher Konsens …“ wird nun gleich eingewendet. Mag sein. Aber der ist auch kein Fakt. Auch der ist eine Meinungsbildung innerhalb der Wissenschaft, der allgemein akzeptiert wird. Nur hat sich der wissenschaftliche Konsens immer geändert. Galileo Galilei hat der wissenschaftliche Konsens des frühen 17. Jahrhunderts fast das Genick gebrochen. Ob das die Medizinstudierenden zum Nachdenken bringt, und der Drehzahl ihres jugendlich-forschen Drives etwas den Schwung nimmt? Das mag man bezweifeln. Man dürfte zur Antwort erhalten: „Medizin hat sich an harte Fakten zu halten – auch wenn die Wissenschaft nur der Meinung ist, sie seien hart. Und schließlich: Wo nichts drin ist, kann auch nichts wirken. Noch Fragen?“ Ja, liebende Studierendenvertreter. Noch viele.
Patienten funktionieren nur selten nach Lehrbuch und widersetzen sich oft einem therapeutischen Schema F, sei es noch so wissenschaftlich fundiert. Das haben sie mit Globuli gemein.
Auch ihr werdet euch noch viele stellen müssen, wenn das Studentenleben einmal ein Ende hat, und euer Alltag von den Krankheiten und Leiden der euch Anvertrauten bestimmt wird. Werdet ihr dann auch die schätzungsweise 80 Prozent der Therapien der offiziellen Medizin ablehnen, denen ebenfalls eine zweifelsfreie und eindeutige Evidenz fehlt? Werdet ihr nie ein Antidepressivum verschreiben, weil die Studienlage belegt, dass deren Evidenz äußerst mangelhaft ist? Was werdet ihr tun, wenn eine Patientin, ein Patient erfolglos aber leitliniengetreu austherapiert wurde? Habt ihr dann auch nur die Floskel parat: „Tja, da müssen sie halt damit leben?“ Praktisch angewandte Medizin ist ein verdammt hartes Geschäft. Ihr werdet bald feststellen: Patienten sind „Problemmenschen“. Sie funktionieren nur selten nach Lehrbuch und widersetzen sich oft einem therapeutischen Schema F, sei es noch so wissenschaftlich fundiert. Das haben sie mit Globuli gemein. Globuli kann man ablehnen und einen großen Bogen um sie machen. Um Patienten nicht. Zumindest nicht, wenn man als Ärztin oder Arzt arbeitet. Ansonsten müsste man aus dem Arztberuf aussteigen. Das wäre konsequent. Dafür gibt es ja bei den Homöopathie-Gegnern ein prominentes Beispiel.
Skeptiker mögen keine Globuli, das weiß man inzwischen. Seit einiger Zeit arbeiten sie emsig daran, dass auch die Gesellschaft keine Globuli mehr mag. Und auch keine Akupunkturnadeln. Und keine Eurythmie. Und keine Osteopathie (eine weitere Aufzählung erspare ich mir und Ihnen). Das nennen sie Aufklärung. Aufklärung verstehen die Skeptiker im Sinne von „über die richtigen Fakten aufklären“. Von diesen Fakten haben sie eine ganze Menge in ihrem Argumentationsköcher: einige scharfe Pfeile (sprich Argumente), mehr stumpfe Pfeile als man denkt, und nicht wenige zurechtgebogene Pfeile. Ich möchte letztere „Pseudo-Argumente“ nennen. Ein solches ist der Ausspruch: „Gute Medizin braucht keine Alternative“. Man könnte die Aussage auch so formulieren: Gute Medizin ist alternativlos.
Was ist gute Medizin? Gute Medizin hilft dem Kranken so gut es geht und schadet ihm so wenig wie möglich. Beides gehört zusammen, sonst kann man nicht von guter Medizin sprechen. Allein dass man dies betonen muss zeigt schon: Medizin scheint ambivalent zu sein. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Wo behandelt wird, gibt es therapeutische Kollateralschäden. So ist es in der Medizin seit es sie gibt. Die Medizin hat sich im Laufe der Jahrhunderte weiterentwickelt und Vieles ist heil- oder zumindest behandelbar geworden, was früher unweigerlich zum Tode führte. Damit haben aber auch die möglichen Schäden zugenommen, die durch die Medizin entstehen können. Das aber nur nebenbei. Um diesen Aspekt geht es eigentlich nur am Rande. Viel wichtiger ist die Frage, wie viel Hilfe, Linderung oder Heilung eine Medizin wirklich bieten muss, damit sie auf Alternativen verzichten kann. Die Antwort ist einfach: Sie muss in jedem einzelnen Fall, vollkommen, vollständig und dauerhaft wirksam sein. Kann sie diesen Anspruch nicht erfüllen, muss sie entweder mit den Achseln zucken oder nach Alternativen Ausschau halten.
Das nicht selten zu hörende „Damit müssen Sie halt leben – der Nächste bitte“ ist eigentlich ein Schlag ins Gesicht der therapeutischen Ethik.
Die erste Möglichkeit sollte immer die allerletzte Option sein. Mit ihr wird in der Medizin viel zu leichtfertig umgegangen. Das nicht selten zu hörende „Damit müssen Sie halt leben – der Nächste bitte“ ist eigentlich ein Schlag ins Gesicht der therapeutischen Ethik. In der Regel (so ist zumindest zu hoffen) wird auch in jeder konventionellen Behandlung nach Alternativen gesucht, wenn die bestmögliche und leitliniengerechte Therapie versagt (was häufiger vorkommt als man denkt). Dann versucht man es eben mit Methoden oder Mitteln, die weniger Evidenz haben, aber doch vielleicht hilfreich sein können. Insoweit gibt es in der Schulmedizin jede Menge „Alternativmedizin“. Aber gute Medizin soll ja ohne Alternativen auskommen, will man uns weismachen. Diese „gute Medizin“ der Skeptiker ist keine Vision, sie ist eine Illusion. Das Scheitern gehört zum täglichen Brot jeder therapeutischen Arbeit, so wie Knecht Ruprecht zu Sankt Nikolaus.
In der Medizin braucht der Griff ins Alternative bisweilen Mut. Gerade wenn das Spektrum der anerkannten Therapien ausgereizt ist. Spätestens dann setzen die meisten Schulmediziner ihre Achseln in Bewegung: Das war’s dann. Die Mutigen unter ihnen schauen in solchen Fällen nicht nur über den Tellerrand, sondern greifen auch über ihn hinaus. Erfahrene Praktiker haben da oft am wenigsten Berührungsängste: „Ich sag’s nur unter der Hand, aber in XY gibt’s einen Geistheiler. Vielleicht probieren Sie’s doch mal da …“ Damit macht sich ein solcher Arzt oder eine solche Ärztin nach Ansicht der Skeptiker der Beihilfe zur Scharlatanerie schuldig. Man kann es aber auch anders sehen: Wenn er oder sie es beim Achselzucken belässt, aber weiß, dass viele bei einem solchen „Wunderheiler“ Hilfe gefunden haben (und sei es nur über den vielgescholtenen Placeboeffekt), dann machen sie sich der unterlassen Hilfeleistung schuldig.
Kurz: Eine Medizin, die auf Alternativen verzichtet, ist keine gute Medizin. Wie man die Alternativen einschätzt und bewertet, ist eine andere Sache. Aber eine alternativlose Medizin ist kein Fort- sondern ein Rückschritt. Ersparen wir uns einen solchen.
Kaum ein Begriff ist mit dem Thema Alternativmedizin so eng verknüpft wie der des Placeboeffekts. Dabei besteht diese Verbindung nicht per se, sie ist vielmehr konstruiert. Wenn die These aufgestellt wird „Globuli sind Placebos“ (wie häufig in den sozialen Netzwerken zu lesen ist), dann ist das weit weg von einem harten wissenschaftlichen Fakt. Für diese Aussage wurde noch nie ein zweifelsfreier Beweis vorgelegt. Der Placeboeffekt kann also nicht als Totschlagargument gegen die Homöopathie (und auch nicht gegen die ganze Alternativmedizin) dienen. Man muss sogar sagen, dass in der derzeitigen Diskussion um Globuli & Co. mit diesem Begriff nicht selten Missbrauch getrieben wird. Die wahre Bedeutung des Placebos wird jedenfalls kaum wahrgenommen und somit auch selten diskutiert.
Der Missbrauch beginnt mit der Gleichsetzung von Placebos mit Unwirksamkeit, indem die Gleichung aufgemacht wird: wirkstofffrei gleich wirkungslos. Daraus wird dann schnell der Fehlschluss: Placebos sind unwirksam – Globuli sind Placebos – also sind Globuli unwirksam. Schon die erste Prämisse wird durch jede kontrollierte Doppelblindstudie widerlegt. In der Placebogruppe ist immer eine Wirkung nachweisbar. Diese kann zwar nach gängiger Auffassung nicht durch das zu prüfende Arzneimittel direkt hervorgerufen worden sein, sie ist aber unbestritten vorhanden und zweifelsfrei statistisch messbar. Somit ist die Aussage „Placebos sind unwirksam“ falsch. Richtig ist vielmehr das Gegenteil: Placebos sind wirksam. Wie diese Wirkung zustande kommt, ist nur in ersten Ansätzen bekannt. Eines macht der Placeboeffekt deutlich: Ein Impuls zur Besserung krankhafter Symptome (oder gar zur Heilung von Krankheiten) kann auch aus dem Patienten selbst kommen. Eigentlich ist der Placeboeffekt lediglich ein sicherer Beleg dafür, dass es so etwas wie Selbstheilungskräfte tatsächlich gibt. Ein Placeboeffekt ist im Grunde genommen eine besondere Art von Selbstheilung. Dass der Organismus sich selbst heilen kann, gilt als unbestritten.
Wenn dem so ist, muss man die Frage stellen, welche Rolle die Selbstheilungskräfte innerhalb der Medizin spielen. Für die Schulmedizin muss man klar feststellen: kaum eine. Sie werden als Phänomene akzeptiert, sind aber in der konkreten therapeutischen Arbeit keine festen Größen, die man ganz spezifisch regulieren, stimulieren oder auf sonst eine Art zu beeinflussen sucht. Es gibt sie. Viel mehr hat die konventionelle Medizin nicht dazu zu sagen. Das ist ziemlich dürftig, wenn man bedenkt, welche zusätzlichen Möglichkeiten sich der Medizin öffneten, gelänge es, die selbstregulierenden Prozesse gezielt und auf wissenschaftlich solider Basis zur Therapie einzusetzen.
Dem Placeboeffekt haftet noch immer das Klischee des Unwirksamen an, was aber gar nicht zutrifft.
Inzwischen haben sich auch Placebo-Forschende in die Diskussion um die Alternativmedizin eingeschaltet. Sie plädieren klar dafür, unkonventionelle Heilverfahren in der Medizin zu belassen. Zwar sehen die meisten von ihnen es so, dass diese Methoden (zumindest zu einem überwiegenden Teil) über den Placeboeffekt wirksam seien, das dürfe aber niemals ein Grund sein, sie aus der Medizin auszugrenzen. Eine solche Forderung zeige nur, dass man die Bedeutung des Placeboeffekts und seinen Beitrag zur Therapie nicht richtig verstanden habe. Dem Placeboeffekt hafte noch immer das Klischee des Unwirksamen an, was aber gar nicht zutreffe. Professor Manfred Schedlowski, Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie und Verhaltensimmunbiologie an der Universität Essen geht noch einen Schritt weiter, wenn er feststellt, dass die Unterscheidung in Schul- und Alternativmedizin einem Denken von gestern oder vorgestern geschuldet ist. Seiner Meinung nach wäre es jetzt an der Zeit, beide Arten von medizinischen Interventionen zu verbinden.
Nach Auffassung des klinischen Psychologen und Philosophen Professor Harald Walach würden in der modernen Medizin die Placeboeffekte (die ja auch in ihr zum Tragen kommen) bagatellisiert, weil sie nicht ins gängige „Maschinenmodell“ des Menschen passten. Der Placeboeffekt sei heute immer noch eine Art „Schimpfwort“ in der Medizin. Dabei sei er eigentlich (wenn man es genauer betrachte) der Kern und das Rückgrat einer jeden medizinischen Bemühung. Placeboeffekte zeigten eindrucksvoll auf, zu welchen therapeutischen Eigenleistungen der Organismus fähig ist. Spezifische Wirkungen und Placeboeffekte sind nach Walach so eng miteinander verwoben, dass man sie gar nicht trennen könne. Er glaubt, ohne die Fähigkeit zur Selbstheilung wäre keine medizinische Maßnahme so wirksam, wie sie sich im klinischen Alltag darstellt. Es könne durchaus sein, dass der spezifische Effekt von Arzneimitteln auf dem Rücken des Placeboeffekts reite.
Der Placeboeffekt spielt bei den unkonventionellen Heilverfahren sicher eine wichtige Rolle. Das tut er aber bei jeder therapeutischen Intervention. Mit ihm zu arbeiten sollte eigentlich ein Kennzeichen für „gute Medizin“ sein. Wenn eine Heilung über den Placeboeffekt zustande kommt, das ist das gewiss keine Heilung zweiter Klasse.